Kommunikationsbeschleuniger:
Das Künstlerduo H2T über ‚COMPRESSOR‘

Marie Bonnet und Carl Kuvent-Meyer stellen sich nach ihrer aufsehenerregenden Pressekonferenz zum Ende ihrer ‚stillen‘ Business-Performance unseren Fragen. Wir treffen die beiden umstrittenen Befürworter einer technologiegetriebenen gesellschaftlichen Transformation in ihrem Brüsseler Atelier, das zu den avanciertesten Treffpunkten für europäische Digitalkünstler, Netzaktivisten und Transhumanisten gehört.


Ihr habt eine bewegte Zeit hinter euch. Wie geht es euch gerade?
Marie: Danke, es geht mir sehr gut. Die letzten zwei Jahre waren fordernd, das stimmt, aber sie waren auch sehr erfüllend. Druckvoll im positiven Sinn. Und jetzt bin ich im Sinkflug und freue mich auf eine etwas ruhigere Phase.

Carl: Darauf freue ich mich auch. Wir haben über ein Jahr in Berlin gelebt und gearbeitet und Berlin ist eine wirklich inspirierende Stadt, aber jetzt bin ich erstmal froh wieder hier in unserem Atelier zu sein… Wir werden die Ruhe an diesem wunderbaren Ort nutzen, um uns auf unsere nächste öffentliche Phase vorzubereiten.

Euer neues Projekt basiert auf einer ‚stillen‘ Business-Performance, wie ihr sie selbst auf der Pressekonferenz genannt habt, die wiederum aus der COMPRESSOR-Performance hervorgegangen ist. Klingt kompliziert. Was können wir erwarten?
Marie: Es ist absolut nicht kompliziert, sondern schlüssig. Vor drei Jahren hatten wir die Idee zu COMPRESSOR und seitdem lebt und verändert sich die Idee und wir folgen ihrer Entwicklung. Wir verwenden aber nicht den Begriff ‚Projekt’. Projekte sind abgeschlossene Einheiten mit klar definierten Zielen. Aber so arbeiten wir nicht. Wir befinden uns in einem fortlaufenden Prozess, der auch eine partizipatorische Ausprägung hat. Wenn wir dem Publikum eine Performance anbieten, dann entscheiden wir uns bewusst den intimen Prozess zu öffnen, in dem wir uns als Künstler-Duo befinden. Deshalb kann ich deine Frage nicht wirklich beantworten, weil wir es selbst noch nicht wissen.

Aber ist eure Ankündigung der nächsten öffentlichen Phase in wenigen Monaten dann nicht ein unnötiges Risiko, besonders wenn ein so großes mediales Interesse besteht?
Carl: Weißt du, wir sind frei. Wir machen, was wir möchten und was uns sinnvoll erscheint. Da gibt es keinen Projektplan für den wir gerade stehen müssen. Die Ankündigung, die ist ein Taschenspielertrick, die richten wir eigentlich an uns selbst. Damit geben wir uns einen Impuls, der uns in die richtige Richtung schubst und uns zeitlich etwas unter Druck setzt. Davon abgesehen habe ich großes Vertrauen in die Arbeit von Marie und mir. Wir haben von Anfang an eine gemeinsame Arbeitsebene gefunden, die weit über unsere individuellen Fähigkeiten hinausreicht. Das habe ich so noch mit niemandem erlebt. Wir werden also auf unserem Weg weiterkommen, da bin ich sicher.

Ihr bezeichnet euer Verhältnis als Künstler-Duo immer wieder als wichtiges Element zum Verständnis eurer Arbeit. Warum ist das so?
Marie: Wie Carl schon sagte, funktionieren wir als Team sehr gut. Für mich ist aber noch etwas anderes wichtig. Die gesamte Arbeit von H2T (Human/Human/Technology) bewegt sich in einem triadischen Spannungsverhältnis. Im kleinen Maßstab bildet es uns ab. Carl, Marie, Technologie. Zwischen diesen drei Polen fließen Informationen, es entstehen Irritationen und Möglichkeiten und wir nutzen dieses pulsierende Spannungsfeld für die Formulierung unserer konkreten gesellschaftlichen Utopie. Im großen Maßstab, auf der gesellschaftlichen Ebene geht es uns um das Verhältnis von Menschen zu Menschen. Das ist zentral für uns. Aber Technologie transformiert dieses Verhältnis dramatisch. Sie ist nicht mehr wegzudenken und wird zum Träger der Verhältnisse selbst. Dadurch ergeben sich ganz neue Gestaltungsspielräume und Chancen, die wir erkunden wollen. Wenn also in der chemischen Summenformel H2O der Wasserstoff in der Überzahl ist, dann ist es in unserer gesellschaftlichen Summenformel der Mensch, der das größere Gewicht hat und haben soll. Wir wollen ihn nicht ersetzen… aber trotzdem, ohne Sauerstoff kein Wasser und ohne Technik keine gesellschaftliche Entwicklung.

So wie ihr es hier erzählt, muss eure Zusammenarbeit beeindruckend gut funktionieren. Aber vor eurer gemeinsamen Zeit habt ihr in sehr unterschiedlichen Themenfeldern gearbeitet. Hat es wirklich auf Anhieb so gut funktioniert?
Marie: Glaub es oder nicht, aber es hat vom ersten Moment an funktioniert. Zum ersten Mal haben wir uns im August ’95 gesehen. Das war bei meiner Performance ‚par moi‘ in Lyon, die offensichtlich das Interesse von Carl geweckt hat.

Carl: Das ist wirklich untertrieben. Für mich war es eine Erweckung.

Das hört sich nach einer grandiosen Performance an. Worum ging es?
Marie: So grandios war sie nicht, eher peinlich. Damals war ich ein richtiger Techno-Hippie und wollte die weltverändernden Möglichkeiten der digitalen Netze feiern.

Carl: Sie macht es hier schlechter als es war. Für mich war die Botschaft grandios. Marie stand mitten in der Galerie und hatte ein Kabel mit dickem Stecker am rechten und eins am linken Daumen befestigt. Die Kabel führten zu Computern, die an gegenüberliegenden Wänden standen und auf denen die Besucher kurze Nachrichten tippten. Alles sehr archaisch. Diese digitalen Nachrichten wurden dann über Marie in der Mitte zwischen den Computern übertragen. Ich fand das total beeindruckend.

Marie: Aber es hat nicht funktioniert. Die Weiterleitung von einem zum anderen Daumen klappte einfach nicht. Ein Freund hatte mir zugesichert, dass er das technisch hinbekommt, aber dann kurz vorher einen Rückzieher gemacht. Aber weil alles schon organisiert war, hab ich die Performance dann trotzdem gemacht. Aber die Computer waren zusätzlich mit einem verstecktem Kabel verbunden. Es war schrecklich und ich habe mich wirklich geschämt. Ich wollte die Unschuldigkeit, Transparenz und Ehrlichkeit der neuen Netzwerke feiern und belog meine Besucher.

Carl: Davon hab ich damals nichts geahnt, aber es hätte auch nichts geändert. Marie war wirklich sehr weit vorne, auch ohne Daumenübertragung. Ich konnte gerade einen Videorecorder bedienen und sie dachte schon über die Auswirkungen eines weltenweiten Netzwerkes nach. Für mich ging an diesem Abend die Tür in eine neue Welt auf.

Marie: Ehrlich gesagt war Carl mir zuerst etwas unheimlich, da er mich anschaute als sei ich der Messias. Aber dann unterhielten wir uns und ich erkannte, dass er gerade einen Erkenntnisrausch erlebte. Niemand hatte bis dahin meine Themen und meine Perspektive so gut verstanden wie er. Nicht mal Menschen, mit denen ich seit Jahren darüber geredet hatte. Es passte einfach von Anfang an. Und seit diesem Abend waren zusammen.

Carl: Wir waren zusammen, aber kein Liebespaar. Ich sage das einfach mal, weil viele das denken. Es ist aber anders: Wir sind eine Arbeitsgemeinschaft, die hervorragend funktioniert. Aber wir teilen nicht das Bett, wir teilen nicht die Versprechen, die man sich als Liebespaar gibt. Für viele ist das schwer nachvollziehbar und ich will diese Abwesenheit von körperlichem Begehren und Sexualität in unserer Beziehung nicht glorifizieren. Es ist, wie es ist. Aber ich glaube, dass es uns hilft, klare, gemeinsame Gedanken zu formulieren.

Gedanken, die euch in den letzten zehn Jahren weit gebracht haben. Habt ihr euren großen Erfolg kommen sehen?
Marie: Solche Entwicklungen kannst du nicht vorhersehen und erst recht nicht planen. Wir haben getan, was wir tun wollten und damit haben wir offenbar einen Nerv getroffen. Schau Dir an wie sich die Welt verändert. Wie die Computer immer schneller werden. Wie das Internet alles durchdringt und in sich aufsaugt. Die Musik, den Handel, die Kommunikation. Es wird  riesige Beben geben, die die gesellschaftliche Tektonik vollkommen verändern werden. Das hat gerade erst begonnen, da bin ich sicher. Und wenn du so eine grundlegende Veränderung schon so lange und intensiv begleitest wie wir, bist du fast automatisch vorne dabei.

Carl: Am Anfang waren wir wie die ersten Menschen auf einem neuen Kontinent. Alles war aufregend, es gab so viel zu entdecken. Wir hatten gar keine Zeit über unseren Erfolg nachzudenken… der kam durch die Hintertür.

Marie: Das war eine gute Zeit. Aber ich finde, dass die Freude und Unbekümmertheit von damals heute einer Rationalität und Ernsthaftigkeit gewichen ist. Das Spielzeug hat sich in ein Werkzeug verwandelt mit dem man auch Schaden anrichten kann. Die Implosion der New Economy war für einige schon das Ende des ganzen Internet-Zeitalters. Aber das ist eine totale Fehleinschätzung. Die Spekulationsblase ist nur ein hässliches Oberflächenphänomen gewesen und nichts, was die strukturellen Wandlungskräfte der neuen Technologien ernsthaft beeinflussen könnte.

Carl: Ja, die große Maschine läuft weiter und das besser als vorher. Professioneller. Das Internet transformiert sich unentwegt. Es wird jetzt mehr und mehr zu einer Veröffentlichungsplattform für jeden. Ohne technisches Knowhow oder Investitionen. Jeder kann Filme auf Youtube veröffentlichen, eine MySpace-Seite einrichten oder einen Blog starten. Das ist eine Explosion der Meinungsvielfalt, die wir als Weltbürger begrüßen. Aber wir feiern nicht nur diese Möglichkeiten, wir reflektieren sie auch kritisch.

Könnte man sagen, dass diese kritische Haltung auch der Ausgangspunkt für eure COMPRESSOR-Performance war?
Carl: Ja, so könnte man sagen. Als wir 2004 im KUZKUZ in Paris erstmalig COMPRESSOR gezeigt haben, sollte das die Auseinandersetzung mit einer zentralen Frage der Informationsgesellschaft anregen: Wie verarbeiten wir Information, wenn die Informationsmenge immer größer und vielfältiger wird? Tatsächlich haben wir uns dieser Frage aus unterschiedlichen Richtungen genähert. Mein Ausgangspunkt war eine Erfahrung, die ich als junger Mann schon lange vor der Digitalisierung gemacht habe. Es betrübte mich schon immer zutiefst, dass ich nur einen winzigen Bruchteil der menschlichen Kultur und Kunst erfassen kann. Es ist für mich immer noch so schrecklich, dass ich kaum eine Bibliothek betreten kann ohne um die Bücher zu trauern, die ich nie lesen werde. Oder die Filme in Videotheken, die ich nie sehen werde. Und jetzt natürlich auch das unglaubliche Angebot des Internets.

Arbeitet an einer kulturellen Metaebene

Marie: Für mich ist das Problem erst durch meine Beschäftigung mit den digitalen Umwälzungen in den Vordergrund getreten. Während die Menge an Information in schwindelerregendem Tempo anschwillt, ist nicht zu erkennen, dass sich in absehbarer Zeit unsere mentale Verarbeitungsgeschwindigkeit evolutionär diesem Fortschritt anpassen kann. Das ist eine Beschränkung, eine Unzulänglichkeit des Menschen, die mir Angst macht. Wohin soll das führen, wenn alles immer schneller wird? Die Kommunikation, die Herstellung von Wissen und Kultur, die Maschinen. Wenn wir also das System Mensch nicht ändern können, im Moment noch nicht, denn ich bin davon überzeugt, dass es in Zukunft technisch möglich sein wird… wenn es also aktuell nicht möglich ist, dann bleibt uns vorerst nur, die Struktur der Information selbst zu beeinflussen. Das ist die Grundidee von COMPRESSOR.

Maike Thaler hat eine wirklich hervorragende Dokumentation über den Entstehungsprozess von COMPRESSOR gedreht. Trotzdem würde ich die Entstehungsgeschichte gerne noch einmal von euch in eigenen Worten hören.
Carl: Wir können versuchen einen kurzen Überblick zu geben… Wie gesagt, am Anfang standen Maries Angst und meine Traurigkeit. Aber auch der Glaube, dass sich etwas verändern lässt. Wir haben deshalb überlegt, was wir überhaupt erreichen möchten und was wir dafür tun können. Nachdem uns das etwas klarer wurde, haben wir Werke aus Literatur und Film identifiziert, die uns persönlich sehr wichtig sind. Unsere Liste bestand am Ende aus 82 Büchern und 46 Filmen. Um diese vollständig in sich aufzunehmen, bräuchte man durchschnittlich 900 Stunden. Das sind mehr als fünf Wochen schlafloser Lebenszeit.

Marie: Mit diesem Bewusstsein haben wir uns ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Zwei Stunden. Soviel Zeit wollten wir uns geben, um die Inhalte dieser Werke von uns zu einem Publikum zu transportieren. Natürlich nicht vollständig, sondern verdichtet. Technisch gesehen mit einem Kompressionsfaktor von 450. Anfangs haben wir zu zweit gearbeitet und mit Tempo, Weglassung, Parallelisierung, Bündelung und anderen Möglichkeiten experimentiert. Aber dann haben wir gemerkt, dass wir so nicht wirklich weiterkommen. Wir suchten nach einer analytischen und strukturierten Herangehensweise, um das Wesen des einzelnen Werkes herauszuarbeiten.

Carl: Wir haben dann mit wirklich hervorragenden Kognitionsforschern, Informatikern und vor allem dem Medienphilosophen und Semiotiker Damko Bergau einen ‚Verdichtungstrichter‘ entwickelt. Das war eine wissenschaftliche Arbeit mit zahllosen Versuchsreihen, der Programmierung mehrerer Analyse-Programme und eines speziellen Video-Schnittprogramms, alles mit dem Ziel einer maximalen Verdichtung von Inhalt und Form.

Marie: Aber letztlich ging es in der Performance nicht darum, einen Geschwindigkeitsrekord aufzustellen. Als Künstler interessiert uns das nicht. Sehr wohl wollten wir aber die menschliche Überforderung durch ein informationelles Überangebot erlebbar machen und gleichzeitig eine Perspektive aufzeigen, wie wir damit umgehen können und eine Lösung anbieten.

Aber sprecht ihr letztlich nicht einfach von einer Zusammenfassung? Etwas das jeder Schüler schon in der Schule macht. Einige Kritiker haben euch das ja vorgeworfen.
Carl: Diese Kritik habe ich nie verstanden. Natürlich sprechen wir hier von einer Zusammenfassung, einer Komprimierung. Aber wir haben sie auf eine neue Ebene gehoben, haben die Zusammenfassung selbst zur Kunstform gemacht, flankiert durch umfassende wissenschaftliche Forschungen. So haben wir gesehen, dass jedes Werk eine eigene Verdichtungsdynamik hat, dass die ‚Komprimierung‘ selbst ein kreativer Akt ist, in dem sich ein individuelles Verhältnis zum Werk widerspiegelt. Und dabei entsteht ein neues Werk, mit einer neuen Qualität. Ein Kind des Ursprungswerks, dass die Genetik seines Vorfahr trägt, aber Autonomie besitzt und eine eigene Geschichte entwickeln kann. Das ist anders als bei der verlustbehafteten Komprimierung von Fotos oder Musik, bei der menschliche Wahrnehmungsdefekte ausgenutzt werden. Doch wir wollten keine Schwächen nutzen, sondern die menschliche Fähigkeit komplexe Informationen intuitiv und ganzheitlich zu erfassen.

Marie: Und natürlich geht es nicht darum, mit der Qualität der Originale zu konkurrieren oder ihnen die Existenzberechtigung abzusprechen. Vielmehr geht es um die Entwicklung einer kulturellen Metaebene, auf der die Erschließungsmöglichkeiten unseres immensen kulturellen Angebots neu verhandelt werden können. Es ist richtig, es geht um Tiefe, aber es muss auch um Breite und Vielfalt gehen. Für eine globale Gesellschaft, die zusammenwachsen möchte, sind das wichtige Bausteine, um die komplexe Vielfältigkeit der Kulturen überhaupt transportieren zu können. Wir brauchen eine neue Sprache, eine für Menschen verständliche Metasprache, die Information effektiver übermitteln kann. Und COMPRESSOR war ein Impuls in diese Richtung.

Carl: Stell Dir vor, du liest ein gutes Buch aus dem Iran oder aber in der gleichen Zeit 250 komprimierte Versionen von wichtigen iranischen Büchern. Was wird Dir mehr Einblick in die Kultur dieses Landes verschaffen?

Sicher die 250 komprimierten Bücher. Aber mehr Freude habe ich wahrscheinlich mit dem einen Buch und vielleicht auch Zugriff auf Subtext, der in einer komprimierten Version verloren geht.
Marie: Sicher, du verlierst etwas, aber du gewinnst auch etwas. Alles auf einmal geht nicht. Gleichzeitig Tiefe und Breite schließen sich aus. Es kommt auf die Aufgabe an, die etwas erfüllen soll. Wir wollen nichts wegnehmen, nur eine neue Möglichkeit hinzufügen.

Und wie habt ihr diese Möglichkeiten dann in eurer Performance umgesetzt?
Carl: Die Technik hat in der Vorbereitung eine zentrale Rolle gespielt. Besonders die Analyse-Software für Text und Film. Aber während der Performance wollten wir so wenig Technik wie möglich einsetzen und damit die menschlichen Fähigkeiten in den Vordergrund stellen. Einen medialen Overkill kann man einfach erzeugen, aber das hätte nichts mit unserer Idee zu tun gehabt.  Es gab also eine Videoleinwand auf der Texteinblendungen, Fotos oder Videosequenzen zu sehen waren. Und dann gab es noch Marie und mich, stehend, jeder mit einem Mikrofon. Und wir haben zwei Stunden gesprochen und das extrem schnell und präzise.

Habt ihr diese unglaublichen Textmengen wirklich auswendig gelernt?
Marie: Ich weiß, dass viele es nicht glauben wollten, ich konnte es ja selbst kaum glauben, aber wir haben unsere Texte wirklich frei rezitiert. Das war uns wichtig. Zu zeigen, dass wir als Menschen so etwas leisten können. Aber die Vorbereitung war hart, sehr hart.

Das Publikum hat überwiegend begeistert reagiert, aber es gab auch kritische Stimmen. Wie habt ihr die Reaktionen erlebt?
Marie: Naja, uns war klar, dass es nicht nur für uns anstrengend wird. Wer ernsthaft unserer Idee folgen wollte, musste uns seine volle Aufmerksamkeit schenken und das war sicher sehr fordernd. Natürlich konnte man das Ganze auch einfach als Informationsdusche oder modernes Mantra nutzen. Aber unser Ziel war ein ernsthafter Informationstransfer.

Carl: Deshalb haben wir im Vorfeld das Publikum umfassend informiert und die Bedingungen für einen gelungenen Transfer erläutert. Sende soviel du willst, aber wenn du keinen passenden Empfänger hast, kannst du es auch gleich sein lassen. Das Publikumsfeedback war dann sehr ermutigend. Viele hatten den Eindruck, wirklich mit den Werken in Berührung gekommen zu sein und nicht bloß eine leblose Zusammenfassung gehört zu haben. Andere sprachen von einem kulturellen Teppich, den wir gewoben haben oder von einer Mikrokultur. Viele hatten auch den Eindruck, dass während der Performance sowohl viel als auch wenig Zeit vergangen war.

Einige empfanden es aber auch als Sakrileg so mit Werken von Weltrang umzugehen.
Carl: Ja, solche Leute gibt es immer. Aber diese kulturellen Heiligsprechungen nutzen doch nichts. Das ist ein Kulturbegriff, den wir nie verstanden haben. Jede Kunst und jedes Wissen muss benutzt werden dürfen wie Knetmasse. Wir dürfen alles damit machen! Alles! Welchen Sinn sollte Kultur sonst haben?

Marie: Schau Dir die Urheberrechtsdebatte an. Die zeigt sehr gut wie Eigentumsreflexe Einzelner die kulturelle Entwicklung bremsen, indem sie Werke aus den kulturellen Wandlungprozessen heraushalten wollen. Finanziell mag sowas seinen Sinn haben, aber aus einer kulturellen Entwicklungsperspektive ist das sehr traurig.

Ihr habt die Performance insgesamt zwölf Mal aufgeführt und danach sollte eigentlich Schluss sein. Es kam aber anders. War euch von Anfang an klar, worauf ihr euch einlasst?
Marie: Nein, sicher nicht. Aber wir arbeiten in einem dauerhaftem transformativem Prozess und sind alleine dadurch schon entwicklungsoffen. Unsere performative Auseinandersetzung mit der sogenannten Geschäftswelt auf die du anspielst, war für uns zwar sehr ungewöhnlich, aber letztlich eine logische Fortführung unserer Arbeit.

Carl: Allerdings wären wir von selbst nie auf diese Idee gekommen. Der erste Impuls ging von Hendrik Scholte aus, einem wirklich erstaunlichen, jungen Mann, der COMPRESSOR in Berlin gesehen hatte. Nach der Performance kam er zu uns, um uns zu unserer großartigen Geschäftsidee zu gratulieren. An diesem Abend verstanden wir nicht was er meinte und haben ihn rausgeschmissen. Aber Hendrik hat ein dickes Fell und meldete sich noch mal.

Marie: Wir kannten ihn nicht, aber in der deutschen Internetszene war er schon damals eine feste Größe. Er hat genügend Geld von Hause aus, um in kleine, innovative Startups zu investieren und ich glaube, dass sich das für ihn auch rentiert. Als er uns gesehen hatte, musste er sofort das Potential unserer Verdichtungsmethoden erkannt haben. Sie funktionierten außergewöhnlich gut und vom Publikum hatten wir mehr als einmal den Wunsch nach mehr Auswahl und dauerhafter Verfügbarkeit komprimierter kultureller Güter gehört. Das war natürlich das, was wir auch wollten, aber wir hatten nie darüber nachgedacht, das Thema aus einer geschäftlichen Perspektive zu betrachten. Hendrik hingegen dachte beides zusammen: geschäftliches Potential und gesellschaftliche Veränderungsmöglichkeiten und führte uns die gegenseitigen Verstärkungseffekte vor Augen.

Carl: Aber ehrlich gesagt, war es zu Beginn keine angenehme Situation. Es war verrückt. Wir reagierten mit großer Ablehnung und sahen gleichzeitig die Chance. Es widersprach einfach allem, wofür wir stehen. Wir haben die Überkommerzialisierung der Kunst immer angeprangert und gegen die Ausbeutung unserer Lebenswelt durch einen überhitzen Kapitalismus gearbeitet. Wir wollten nicht Teil dieser Maschine werden. Gleichzeitig lag uns aber die Verbreitung unserer Verdichtungsmethodik sehr am Herzen. Wir diskutierten und diskutierten und haben tagelang nicht geschlafen. Aber dann haben wir eine schlüssige Entscheidung getroffen. Anders als von Hendrik vorgeschlagen, wollten wir nicht einfach nur unsere Idee im Tausch gegen eine Beteiligung übergeben, sondern selbst aktiv als Geschäftsleitung einsteigen. Wenn Kunst als Ware gehandelt wird, sagten wir ihm, wie ein halbes Rind aus dem Schlachthof oder ein paar IKEA-Möbel, dann gibt es keinen Grund mehr diese kapitalistischen Mechanismen nicht selbst zur Performance zu machen und damit für die Kunst zurückzuerobern.

Marie: Unser Vorschlag an ihn war also eine Business-Performance. Damit wollten wir uns eigentlich für sein selbstgefälliges Angebot revanchieren, das ja letztlich keinen Respekt vor der Kunst zeigte und sind keinen Moment davon ausgegangen, dass er sich darauf einlässt. Schließlich hatten wir keinerlei Erfahrung in der Geschäftswelt und es ging ja um sein Geld. Aber Hendrik überraschte uns. Er verstand die Idee und sie gefiel ihm und er war bereit zu investieren.

Ihr habt die Rahmenbedingungen der Business-Performance dann vertraglich festgehalten. Ist es nicht merkwürdig, sich als Künstler in dieser Form zu binden? Zum Beispiel zwölf Monate einen Firmengründer zu spielen?
Marie: Ich muss Dich korrigieren. Wir haben in dieser Zeit nicht die Rolle eines Firmengründers gespielt. Wir sind mit der Überzeugung angetreten, dass wir die feinen Wirkmechanismen dieses facettenreichen Lebenskomplexes, den wir Wirtschaft nennen, nur verstehen können, wenn wir wirklich Unternehmer werden. Das war auch Teil der Vereinbarung, die wir mit Hendrik getroffen haben. Ihm war natürlich auch daran gelegen, dass wir nicht Theater spielen, sondern ernsthaft arbeiten. Dafür erhielten wir wiederum das Recht, unsere Erfahrungen nach diesen zwölf Monaten künstlerisch vollkommen frei aufarbeiten zu dürfen. Wir rechnen Hendrik das sehr hoch an, denn er ist damit ein hohes finanzielles und persönliches Risiko eingegangen und weiß jetzt immer noch nicht, was da auf ihn zukommt. Er fragt aber auch nicht, was uns darin bestärkt, dass die Zusammenarbeit mit ihm die richtige Entscheidung war.

Carl: Trotzdem… für uns war es gerade am Anfang nicht besonders angenehm. In aller Öffentlichkeit haben wir uns von zwei renommierten Künstlern in zwei Vollblut-Geschäftsführer einer kleinen Internet-Firma verwandelt. Außer Hendrik wusste ja niemand etwas von dieser ‚stillen‘ Performance. Und es ist wirklich erschreckend wie sich selbst alte Weggefährten abwenden, wenn man sich nicht mehr gruppenkonform verhält. Glücklicherweise hatten wir kaum Zeit uns darüber aufzuregen. In diesem Jahr der Aneignung mussten wir nicht nur die Aufgaben einer Geschäftsführung erfüllen, sondern auch auf einer Metaebene beobachten, was um uns herum geschieht, was wir tun, wie wir uns verändern und welche Entscheidungen wir treffen. Wir haben in diesem Jahr eine sehr ausführliche Dokumentation erstellt und das meistens in den Abendstunden nach offiziellem Arbeitsschluss.

Diese Doppelbelastung hat euch nicht davon abgehalten als Geschäftsleitung sehr erfolgreich zu sein.  Die Internet-Plattform COMPRESSOR ist ein Senkrechtstarter. Was habt ihr richtig gemacht?
Marie: Gute Frage. Ich glaube, es war vor allem eine Entscheidung zu Beginn, die wichtig für den Erfolg war. In der konzeptionellen Phase wurde uns immer wieder nahegelegt einen kostenpflichtigen Service aufzubauen… also selbst die Inhalte erstellen, um sie dann zum Beispiel über ein Abo-Modell zu vertreiben. Da gab es kluge Köpfe, die sich betriebswirtschaftlich sicher sehr gut auskannten und mit ihren umfangreichen Excel-Tabellen Eindruck gemacht haben. Aber wir wollten von Anfang an eine Community aufbauen. Selbst Hendrik mussten wir in langen Gesprächen überzeugen, dass wir keinen Shop, sondern eine Plattform brauchen, um wirklich eine nennenswerte Größe zu erreichen. Nachdem die Entscheidung dann in unserem Sinne gefallen war, haben wir mit unserem Team die Community systematisch aufgebaut und mit Software-Tools, Prozessen, Anleitungen, Support und vor allem einer Vision mobilisiert.

Carl: Vor einer Woche gab es schon über 13.500 Bücher und Filme, die mit unseren Methoden und Tools von der Community bearbeitet wurden. Zu einigen Werken gibt es dutzende Versionen, die unterschiedlich lang sind oder andere Schwerpunkte setzen. Das hätten wir in den zwölf Monaten niemals geschafft, wenn wir die Inhalte selbst erstellt hätten.

Marie: Mich freut diese expansive Kraft der Community wirklich sehr. Sie hat unsere Idee nicht nur aufgegriffen, sondern in unterschiedliche Richtungen weiterentwickelt. Das ist eine fantastische Evolution und ehrlich gesagt viel, viel mehr als wir gehofft hatten.

Und dann musstet ihr vertraglich gebunden am 17.06. den offiziellen Schlussstrich unter eure stille Performance ziehen. Tat das nicht weh?
Carl: Nein. Ich kann gut loslassen. Jetzt übernimmt ein wirklich professionelles Team den weiteren Aufbau und kümmert sich verstärkt um die Generierung von Einnahmen und die Internationalisierung. Deshalb können Marie und ich jetzt auch mit gutem Gewissen die Perspektive wechseln und auf das letzte Jahr blicken.

Marie: Mir war wichtig, dass unser Ausstieg reibungslos funktioniert und ich glaube, das hat geklappt. Parallel zur Pressekonferenz haben wir die Community informiert und erstmalig über unsere ‚stille‘ Performance aufgeklärt. Ich denke, wir konnten unsere Motivation verdeutlichen und noch mal herausstellen, dass es uns nicht darum geht, jemanden vorzuführen oder auszunutzen, weder unsere Mitarbeiter noch unsere Community. Beide liegen uns sehr am Herzen.

Die Community scheint es wirklich gelassen aufgenommen zu haben. Aber eure Langzeitkritiker konntet ihr auch mit der Pressekonferenz nicht besänftigen. Was sagt ihr dazu?
Carl: Wenn sich Kritiker aufregen, dann haben wir vieles richtig gemacht. Wer unsere Ideen anders bewertet als wir und das mit uns diskutieren möchte, ist herzlich eingeladen. Genau darum geht es uns ja. Aber mit allen Dogmatikern da draußen, die nur Antworten und keine Fragen mehr haben, ist das Gespräch beendet. Wenn ich eine Predigt brauche, gehe ich in die Kirche.

Marie: Uns ist klar, dass die Konstruktion außergewöhnlich war, in der wir gearbeitet haben und Fragen aufwirft, auf die wir auch noch keine Antworten haben. Aber sollen wir es als Künstler deshalb nicht machen? Die Vorwürfe der Befangenheit treffen uns persönlich sehr. Auf der Pressekonferenz haben wir deutlich gemacht, dass wir schon vor den zwölf Monaten unsere Firmenanteile vollständig an eine Stiftung übergeben haben, die das Ziel der nicht-kommerziellen Verbreitung unserer Idee hat. Wir haben keinen Einfluss mehr auf diese Stiftung und es ging und geht uns auch nie um Geld. Aber wenn jemand nicht zuhört oder zuhören will, dann hat er sich seine Meinung schon gebildet. Dann unterstellt uns so jemand, dass wir heimlich noch Anteile halten oder dass wir die Geschäftsleitung nicht wirklich abgegeben haben und das nur eine PR-Aktion ist, um Aufmerksamkeit zu erzeugen. Es spielt keine Rolle, was wir sagen, wir werden denjenigen nicht überzeugen können.

Wehrt sich gegen die Kritik von Wittey

Es waren ja besonders die Kritiken von Matt Wittey in ARTY, die den Grundton gegen euch angestimmt haben.
Carl: Das stimmt leider. Vor gut zwei Jahren, als wir die Performance erstmalig aufgeführt haben, hat Matt Wittey uns als neoliberale Antikünstler bezeichnet, die die Weltkultur auf dem Altar der gesellschaftlichen Daueroptimierung opfern wollen. Und jetzt nennt er uns Performance-Scharlatane, die nach einem gescheiterten Ausflug in die Geschäftswelt wieder in den Schoß der Künstlergemeinschaft zurückkehren möchten. Einer Gemeinschaft, die wir zuvor mit Füßen getreten haben sollen. Mit allem Respekt vor der Leistung Witteys in den 70er und 80er Jahren, aber wenn man in seinem Altersdomizil nicht mehr die gesellschaftlichen Veränderungen mitbekommt, sollte man vielleicht einfach schweigen. Wir sind ja nicht die einzigen, die von ihm attackiert werden. Eine ganze Riege neuer Künstler, die einem gesellschaftlichen Wandel aufgeschlossen gegenübersteht, wird von ihm angegangen. Ich würde ihm mehr Altersweisheit wünschen.

Marie: Wittey legt immer das gleiche linke Raster über alles und jeden und klopft dann solange darauf herum, bis es passt oder eben auch nicht. Das ist umso trauriger, da wir durchaus gleiche Ideen und Ziele verfolgen. Aber wir blicken dabei auf die Zukunft und sind nicht Konzepten der Vergangenheit verpflichtet. Es gibt noch keinen Namen für unsere Zukunft, aber das macht sie nicht schwächer.

Bei aller berechtigten Kritik an Witteys Tiraden: Ist die Idee der stetigen Verbesserung und Beschleunigung nicht wirklich eine schreckliche Endlosspirale?
Marie: Finde ich nicht. Einen Menschen im Mittelalter hätte unser heutiges mediales Angebot in den Wahnsinn getrieben. Heute kann jedes Kind wie selbstverständlich damit umgehen. Warum sollte ich nicht wahnsinnig werden, wenn ich erlebe, welchen Input Menschen in 100 Jahren verarbeiten können.

Aber gibt es da nicht Grenzen?
Carl: Keine Ahnung. Es hat immer Menschen gegeben, die eine Grenze gesehen haben bis ein anderer einfach darüber hinweggeschritten ist. Warum sollte das aufhören? Warum sollte sich jemand wünschen, dass das aufhört?

Eine letzte Frage noch: Was wünscht ihr euch für die Zukunft?
Marie: Dass die Menschen sich dem kulturellen Reichtum der Welt öffnen und zur Weltgemeinschaft werden.

Carl: Eine intelligente Maschine, die unsere gesamte Kultur enthält und mir in jeder beliebigen Form präsentieren kann.

Marie, Carl, wir sind sehr gespannt auf eure Aufarbeitung dieses außergewöhnlichen Prozesses. Danke für das Gespräch.

(Brüssel – 07/2005)

Markus van Well